Regen prasselt gegen das Fenster. Der Himmel ist grau. Draussen ist es kalt und ungemütlich. Man kann hinter einer Fensterscheibe ein Mädchengesicht erkennen, das mit melancholischem Blick in die Welt hinaussieht. Sie summt ein kurzes Lied - plötzlich aber lacht sie, die Wolken verschwinden - eine Glocke läutet irgendwo in der Ferne und plötzlich ertönt ein gewaltiger Akkord, der den Zuhörer direkt in die Lounge des “Hotel Normandy” führt, in der ein warmes Kaminfeuer prasselt. Die Dame des Hauses nimmt mich an der Hand, sieht mir tief in die Augen und singt den ersten Song, der sich sofort tief in meine Seele wühlt.
Nachdem ich noch die letzten Schwingungen des tollen Saxophone-Solos verarbeite, geht die Reise weiter mit dem wunderbar romantischen “Je Retiens Mon Souffle” - die elektrische Gitarre (hier gespeilt von Robin Millar) vermittelt - sparsam und effektiv eingesetzt - etwas Flair einer einsamen Wüstenlandschaft.
Dann kommt mit der Mörderballade “Ceux Qui N’ont Rien” das erste ultimative Highlight der CD. Patricia Kaas singt hier mit einer impulsiven Intensität, die einfach unerreicht ist. Und als ob sie die Musiker angesteckt hat, sie schaukeln sich hoch zum majestätischen Kracher - hier stimmt alles - der Gitarrensound - Keyboardromantik - einschmeichelndes Saxophon - der Song erinnert mich in seiner Güteklasse an die grossen Sounds, die Alan Parsons für seine eigenen Werke und Pnk Floyd’s “Dark Side Of The Moon” produziert hat.
Die Melodie, die Patricia Kaas im folgenden “Il Me Dit Que Je Suis Belle” singt, ist ebenso grossartig. Als Gast wirkt hier Chris Rea mit, der mit einem ganz starken Beitrag zeigt, was für ein grossartiger Gitarrist er ist. Starke Rockballade.
Der erste englischsprachige Song (“Space In My Heart”) des Album zeigte, dass sich die in Frankreich geborene Sängerin jederzeit auch in “fremdem” Terrain behaupten kann. Ist sozusagen die ruhige Überleitung zum nächsten Kracher.
“La Liberte” hat so etwas von einem lasziven erotischen Reggae-Rhythmus, das es schwierig ist, den Song zu beschreiben, ohne in noch grössere Lobhudeleien aus zu brechen. Wenn ich das Stück mit voller Lautstärke (egal ob über Kopfhörer oder Lautsprecher) in mich aufsauge, gibt es auch heute noch nach rund 15 Jahren Gänsehaut.
Das erste Stück, das so richtig in die Schublade “Chanson” passt, ist “Jojo”. Wechselnde Tempi, ein klasse Akkordeonsound (der aber - wie ich später feststelle, vom Keyboard kommt), der vom Piano getragen wird und Patricia entwickelt durch ihren Vortrag eine intensive Bindung zwischen Gesang und Musik.
Den modernen Anspruch des Albums untermauert das discopoppige “Reste Sur Moi” - 98,9 beets per minute reihen den Song schön in die Riege der tanzbaren Lisa Stansfield- oder gar Britfunk-Stücke ein. Einen deutschen Beitrag gibt’s auch: “Ganz und Gar” wurde von Marius Müller Westernhagen geschrieben und (1988 von ihm selbst) gesungen. Auch hier kommt Patricia’s dunkles Timbre wunderbar zur Geltung. Ich glaube auch, dass Patricia nach der australischen Sängerin Renee Geyer erst das zweite weibliche Wesen war, das sich damals an James Brown’s “It’s A Man’s World” gewagt hat. In ihrer Version wird’s zum aussergewöhnlichen intensiven Cover-Song und einem weiteren Highlight der CD. Leadgitarrist Paul Stacey erinnert hier mit seinen Phrasierungen an David Gilmour.
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